Manhattan an der Maas

Rotterdam hat sich neu erfunden. Europas größte Hafenstadt punktet als charmante Weltstadt mit innovativer Architektur, gewagter Kunst und einem spannenden Nachtleben.

„Als die ersten Bomben fielen, fingen die Frauen und Kinder im Luftschutzkeller an zu weinen“. Nina Swaep ist gerade mal Anfang dreißig und weiß dennoch sehr viel über den 14. Mai 1940, jenen Tag als deutsche Bomber die gesamte Rotterdamer Altstadt dem Erdboden gleich machten. Denn ihre Großmutter Jopie Swaep-Kloots überstand den Feuersturm als Kind in einem Luftschutzkeller – zusammen mit deutschen Soldaten, die zuvor erfolglos versucht hatten, die Hafenstadt einzunehmen. „Meine Oma hat mir erzählt, dass die Deutschen laut gesungen haben, um die Einschläge der Bomben zu übertönen und den Kindern Mut zu machen.“ Nur eine Viertelstunde dauert der Angriff. Vier Tage brennt die Stadt. Die mittelalterlichen Straßenzügen – nur noch Schutt und Asche. Mehr als 800 Rotterdamer verlieren ihr Leben, etwa 76 000 werden obdachlos. Am folgenden Tag kapitulieren die Niederlande. „Noch heute erzählen wir Rotterdamer uns gern einen sarkastischen Witz“, sagt Swaep: „Kommt ein deutscher Tourist nach Rotterdam und fragt: Wo ist denn hier die Altstadt?“

Spektaktuläre Aussichten auf Rotterdam hat man von der Plattform des Euromast. Er ist mit über 180 Metern einer der höchsten Bauwerke der Niederlande. Foto: Rotterdam Marketing.
Spektaktuläre Aussichten auf Rotterdam hat man von der Plattform des Euromast. Er ist mit über 180 Metern einer der höchsten Bauwerke der Niederlande. Foto: Rotterdam Partners


Dass Rotterdam, das immer im Schatten seiner musealen Nachbarin Amsterdam stand, bei Städtereisenden dennoch gefragt ist wie nie, freut die Kunsthistorikerin. „Rotterdam ist nicht so romantisch wie Amsterdam oder Utrecht. Es ist ganz anders als alle anderen Städte der Niederlande, aber das macht ja gerade den besonderen Reiz aus.“ Wie alle Rotterdamer scheut Swaep den Vergleich mit Amsterdam nicht und kultiviert sogar die Konkurrenz. „Amsterdam ist ein Ort, der stagniert. Rotterdam pulsiert
und erfindet sich als moderne, weltoffene Metropole ständig neu.“ So sei Schönes neben Hässlichem entstanden und Neues neben Alten. „Diese Gegensätze machen die Stadt so spannend.“


Nirgends wird dies so deutlich wie auf der aktuellen Spielwiese für Architekten und Städteplaner, dem Kop van Zuid, einer Halbinsel am Südufer der Maas, wo sich Star-Architekten wie der Italiener Renzo Piano (KPN
Telecom Office Tower, 96,5 Meter) und der Brite Norman Foster (World Port Center, 134 Meter) in der Vertikalen austoben konnten. Zwischen den Wolkenkratzern wirkt das altehrwürdige Hotel New York, einst Hauptquartier der Holland­-Amerika-Linie, fast verloren. „Die Assoziation mit New York ist durchaus gewollt. Hier am Wilhelmina­-Pier legten einst die Auswandererschiffe nach Amerika ab. „Rotterdam ist die niederländische Stadt mit den meisten und den größten Hochhäusern und wird daher auch Manhattan an der Maas genannt“, erklärt Swaep und führt ihre Gäste ein paar hundert Meter weiter zu einem spektakulär verschachtelten Turm aus Stahl und Glas.

Alt und neu: Das Hotel New York, einst Hauptquartier der Holland­-Amerika-Linie (rechts) wirkt zwischen den Wolkenkratzern fast verloren. Foto: Rotterdam Partners

150 Meter hoch ist das Gebäude und trägt den Namen De Rotterdam. Entworfen hat es der niederländische Architekt Rem Koolhaas. Zur Eröffnung des Giganten im Frühjahr 2014 pilgerte die Weltpresse und unzählige Liebhaber moderner Architektur auf den Kop van Zuid. Und Koolhaas ist nicht der einzige renommierte Vertreter zeitgenössischer Architektur, der sich in Rotterdam ein Denkmal gesetzt hat. In den 80er Jahren erregte der Architekt Piet Blom mit seinen berühmten Kubus-Häusern internationale Aufmerksamkeit und kreierte damit eins der Wahrzeichen Rotterdams. Mittlerweile kann man hier als Gast auch wohnen. Die Jugendherberge hat einige Räume in den auf der Spitze stehenden Wohnwürfeln angemietet. Einzigartig und absolutes Muss für jeden Rotterdambesucher ist auch die ebenfalls im Jahr 2014 fertiggestellte „Markthal“: 120 Meter lang, 70 Meter breit und elf Stockwerke hoch. „Hier könnte selbst ein Jumbojet bequem einparken“, sagt Swaep augenzwinkernd. Doch nicht nur der schieren Dimensionen wegen staunen ihre Gäste aus Deutschland beim Bummel durch den hypermodernen Gourmet-Tempel. Wände und Decke ziert ein hypermodernes Video-Gemälde von Arno Coenen. Erdbeeren und Äpfel kommen darauf so groß wie Kleinwagen daher. „Mit 11 000 Quadratmeter, das entspricht in etwa der Fläche von zwei Fußballfeldern, ist es das größte Kunstwerk der Niederlande“, weiß Nina Swaep.


„Rotterdam pulsiert und erfindet sich als moderne,

weltoffene Metropole ständig neu.“

Nina Swaep, Kunsthistorikerin und Stadtführerin


Nicht kleckern, sondern Klotzen – das gilt auch für den im März 2014 eröffneten neuen Hauptbahnhof. Wie ein Keil ragt das silbrig glänzende Stahldach aus dem Boden. „Von uns Rotterdamer wird der Bahnhof Kapsalon genannt“, erklärt Nina Swaep, „nach einem Rotterdamer Snack, der in einer Aluminiumschale serviert wird.“ Besonders stolz ist die 27-Jährige jedoch darauf, dass in der Architekturstadt auch Projekte mit einem kleinen Budget eine Chance haben, so wie der Luchtsingel (Luftkanal). Die 390 Meter lange Holzkonstruktion verbindet zwei ehemals durch eine Bahnlinie getrennte Stadtviertel miteinander. Dank der Brücke ist Rotterdam Noord – ein aufstrebendes dynamisches Viertel – nun einfach zu Fuß erreichbar. Der Plan dafür geht auf eine Stadtinitiative im Jahr 2011 zurück und wurde nicht nur von der Stadt finanziert, sondern auch von Unternehmen und Einwohnern von Rotterdam. „Jeder konnte Holzbretter für 25 Euro pro Stück kaufen“, sagt Swaep. „Für diese Summe wurde dann der Name des Spenders ins Brett eingraviert“. Unter der Brücke ist außerdem ein Spielplatz entstanden und der Luchtsingel erfüllte auch einen leer stehenden Bürokomplex aus den
70er Jahren mit neuem Leben. In den ehemaligen Büros haben Künstler und Designer ihre Ateliers eingerichtet. Und auf dem Dach des Gebäudes legten die Yuppies (Young Urban Creatives) Gemüse und Kräutergärten an.

Doch nicht nur bei Architekturfreunden und Designfans ist Rotterdam beliebt. Auch Nachtschwärmer und Partyfreunde kommen auf ihre Kosten. „Vor allem im Stadtteil Witte de Withstraat steppt Abends der Bär“, verrät Swaep. In den 70er und 80er Jahren noch ein Problemviertel hat sich der Stadtteil inzwischen zu einer der ersten Ausgeh-Adressen gemausert, voller
gemütlicher Cafés, hipper Bars, Clubs und Restaurants. Von erstklassiger italienischer und französischer Küche bis hin zu exotischen Snacks aus Hawaii oder Wokgerichten aus Indonesien – es gibt quasi nichts, was es nicht gibt.
„Das Café De Witte Aap (Weißer Affe) ist sehr beliebt bei Touristen, von denen einige behaupten, es gäbe weltweit nichts Vergleichbares“, sagt Swaep nicht ohne Stolz. Und wer gern einkaufen geht, ist hier ebenfalls richtig. Nicht
umsonst hat die „New York Times“ Rotterdam deshalb wohl zu einer der zehn wichtigsten Städte der Welt gekürt, die man besuchen sollte. „Amsterdam“, sagt Nina Swaep und grinst, „war übrigens nicht darunter“.

Die Recherche wurde unterstützt vom Niederländischen Büro für Tourismus, Mehr Infos unter www.holland.com

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